Anwendung des Art. 22 Abs. 1 EuErbVO
Sachverhalt:
Der vorliegende Fall ist dem (internationalen) Erbrecht zuzuordnen. Der Kläger, Adoptivsohn des verstorbenen Erblassers, erhob gegenüber der Beklagten als Alleinerbin einen Anspruch auf Auskunft über den Bestand und den Wert des Nachlasses. Der Erblasser war britischer Staatsangehöriger, der Kläger deutscher Staatsangehöriger mit gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland. In dem notariell beurkundeten Kindesannahmevertrag schloss der Erblasser die Erb- und Pflichtteilsrechte des Adoptivsohns nach dem Erstversterbenden aus. Später setzte der Erblasser in einem notariellen Testament die Beklagte als Alleinerbin ein und wählte für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das englische Recht.
Instanzengang:
Das Landgericht Köln (LG) erkannte den Anspruch des Klägers nicht an. Das Oberlandesgericht Köln (OLG) verurteilte die Beklagte zur Auskunft über den Bestand des Nachlasses und alle ergänzungspflichtigen Schenkungen durch Vorlage eines notariellen Nachlassverzeichnisses. Der Kläger sei als Adoptivsohn des Erblassers pflichtteilsberechtigt und von der Erbfolge ausgeschlossen, sodass ihm gem. § 2314 Abs. 1 BGB ein Auskunfts- und Ermittlungsanspruch gegen die Beklagte zustünde. Die Rechtswahl des Erblassers in seinem Testament stehe dem nicht entgegen.
Die Anwendung englischen Rechts scheide in diesem konkreten Fall jedoch aus, weil das englische Recht keinen Pflichtteil kenne und somit gem. Art. 35 EuEr-bVO mit dem deutschen ordre public unvereinbar sei. Erwachsene Kinder erhielten nach dem englischen Inheritance Act 1975 keinen Anspruch auf Teilhabe am Nachlass. Das verstoße gegen die deutsche bedarfsunabhängige Erbrechtsgarantie. Nach deutschem Rechtsverständnis sei der Aspekt der „Familiensolidarität“ entscheidend. Darüber hinaus stelle das englische Recht auf das Ermessen des Gerichts hinsichtlich der Höhe der finanziellen Zuwendung ab. Demgegenüber sieht das deutsche Pflichtteilsrecht eine bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung der Kinder im Erbfall vor.
Vor dem BGH verfolgte die Beklagte die vollständige Klageabweisung:
Der BGH stimmte dem OLG in großen Teilen zu und erkannte den Anspruch des Klägers auf Auskunft an. Die Rechtswahl des Erblassers sei zwar wirksam gewesen, jedoch sei das englische Recht in dem konkreten Fall mit dem deutschen ordre public gem. Art. 35 EuErbVO nicht vereinbar.
Denn das englische Recht steht zu der nach deutschem Recht verbürgten Nachlassverteilung in einem so schwerwiegenden Widerspruch, dass dessen Anwendung im hiesigen Fall untragbar ist. (Rn. 11)
Ein Verstoß gegen den ordre public liege dann vor, wenn die Anwendung des ausländischen Rechts im konkreten Einzelfall zu Ergebnissen führe, die nach dem deutschen Rechtsverständnis untragbar erscheinen. Das familienschützende Pflichtteilsrecht sei hierbei als Institutionsgarantie im deutschen ordre public zu verstehen. Nach diesem kommt Kindern eine unentziehbare und bedarfsunabhängige wirtschaftliche Mindestbeteiligung an dem Nachlass der Eltern zu.
Art. 6 Abs. 1 GG schützt das Verhältnis zwischen dem Erblasser und seinen Kindern als lebenslange Gemeinschaft, innerhalb derer Eltern wie Kinder nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet sind, füreinander sowohl materiell als auch persönlich Verantwortung zu übernehmen. (Rn. 14)
Es bestünde daher stets eine – durch die Abstammung begründete – familienrechtliche Bindung beim Verfassen eines Testaments. Das englische Recht kenne hingegen kein solches bedarfsunabhängiges unentziehbares Pflichtteils- oder Noterbrecht und auch der Inheritance Act 1975 sehe lediglich eine bedarfsabhängige Beteiligung der Kinder vor. Eine derartige Beteiligung sei jedoch nicht mit den in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG verankerten Garantien des deutschen Pflichtteilsrechts vereinbar. Selbst wenn davon auszugehen sei, dass ein kompensierender Unterhaltsanspruch im englischen Recht dem Kläger zugutekommen würde, scheitere dieser hier schon daran, dass der Erblasser sein letztes Domizil nicht in England oder Wales gehabt habe. Eine Unvereinbarkeit mit dem deutschen ordre public führe insoweit zur Unanwendbarkeit des englischen Rechts.
Der BGH wägte sodann einige Ansichten hinsichtlich der Vereinbarkeit des englischen Pflichtteilsrechts mit dem deutschen Pflichtteilsrecht ab. Es kam zu folgendem Schluss:
Die überwiegende Auffassung nimmt demgegenüber – wie auch das Berufungsgericht – an, dass es der in Art. 14 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG verankerten Garantie einer bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass ihrer Eltern widerspricht, wenn einem Abkömmling nach dem gewählten Recht kein Anspruch auf Teilhabe am Nachlass zusteht, so dass in diesen Fällen ein offensichtlicher Verstoß gegen den deutschen ordre public vorliegt. (Rn. 21)
Dieser Auffassung sei zu folgen. Durch die Nichtanwendung des englischen Rechts sei auch kein Verstoß gegen die Grundrechtecharta ersichtlich. Im vorliegenden Fall käme dem Kläger als Pflichtteilsberechtigem ein Anspruch auf Auskunftserteilung über den Bestand des Nachlasses des Erblassers zum Zeitpunkt des Erbfalls durch notarielles Nachlassverzeichnis gem. § 2314 Abs. 1 S. 1, 3 BGB zu. Dabei seien auch gem. § 2315 BGB ergänzungspflichtige Schenkungen innerhalb der vergangenen zehn Jahre vor dem Erbfall erfasst. Als Adoptivsohn sei der Kläger pflichtteilsberechtigt, obwohl der Erblasser diesen von der Erbfolge ausgeschlossen habe.
Dieses Urteil zeigt, dass bei einer Rechtswahl die jeweiligen Konsequenzen bedacht werden müssen. Die im Pflichtteilsrecht verankerten Garantien müssen – auch bei der Erstellung eines Testaments – gewahrt werden.
Quelle: BGH, Urt. v. 29.06.2022 – IV ZR 110/21
Gesetzestext:
§ 2314 BGB – Auskunftspflicht des Erben
(1) Ist der Pflichtteilsberechtigte nicht Erbe, so hat ihm der Erbe auf Verlangen über den Bestand des Nachlasses Auskunft zu erteilen. Der Pflichtteilsberechtigte kann verlangen, dass er bei der Aufnahme des ihm nach § 260 vorzulegenden Verzeichnisses der Nachlassgegenstände zugezogen und dass der Wert der Nachlassgegenstände ermittelt wird. Er kann auch verlangen, dass das Verzeichnis durch die zuständige Behörde oder durch einen zuständigen Beamten oder Notar aufgenommen wird.
(2) Die Kosten fallen dem Nachlass zur Last.
Art. 35 EuErbVO – Öffentliche Ordnung (ordre public)
Die Anwendung einer Vorschrift des nach dieser Verordnung bezeichneten Rechts eines Staates darf nur versagt werden, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Staates des angerufenen Gerichts offensichtlich unvereinbar ist.